Mut zum Götterfunken
Heimat-Hymnen in glühendem Gewand: Mari Vihmands Chor- und Orchesterstück "Unterwegs", Auftragswerk der Herbstlichen Musiktage, wurde am Samstagabend in der Amanduskirche uraufgeführt.
Autor: RAFAEL RENNICKE
Sopranistin Melanie Diener wirkte in Mari Vihmands Werk "Unterwegs" mit, das in der Amanduskirche uraufgeführt wurde. Foto: Jan Zawadil
Mari Vihmand lebt seit 13 Jahren in Bad Urach, und was die estnische Komponistin zu Beginn der Uraufführung ihres neuen Werks sagte, setzte zur hierzulande seit Wochen geführten Integrations-Debatte einen hellen, leuchtenden Kontrapunkt. Die Arbeit an ihrem Werk, sagte Vihmand, sei für sie "auch Integrationsarbeit" gewesen: "Dank der Dichter fühle ich mich in meiner schwäbischen Wahlheimat jetzt noch mehr verwurzelt."
Und in der Tat ist es ein starkes und berührendes Zeugnis der Zuwendung zur Kunst und Kultur ihrer Wahlheimat, wenn Mari Vihmand in ihrem von den Uracher Musiktagen in Auftrag gegebenem Werk den schwäbischen Dichtern Schiller, Kerner, Mörike und Hesse Hommage abstattet und dabei etwas ganz Eigenes, Persönliches erschafft, einen musikalischen Lobgesang mit estnisch-schwäbischer Note, den es in dieser Art bislang noch nicht gab.
Vihmands Umgang mit den Dichter-Texten ist eigenwillig, unkonventionell, manchmal auch irritierend. Die Auswahl und Zusammenstellung der zehn Gedichte zeigt den erfrischend unbefangenen Blick, den nur haben kann, wer den erhabenen Glanz von Schillers Ode "An die Freude" nicht mit der Muttermilch eingesaugt oder sich in seiner Jugend nicht an Hesses Gedichten gerieben hat. Es sind Stichworte, Bilder oder Schlüsselwörter, die Vihmand anziehen und in denen sie Verbindendes erblickt, das fähig ist, ein stimmiges Ganzes zu bilden. So ergeben sich, im bunten Wechsel der Gedichte und oft sehr feinen Dialogisieren der Dichter, sieben Stationen einer Reise, die vom Aufbruch in die Ferne und dem Unterwegssein bis hin zur Todessehnsucht künden, mit der das Werk verklingt.
Man spürt in Mari Vihmands Musik von Anfang an, dass dieses "Unterwegs" für die Komponistin keine nur räumliche Dimension besitzt, auch wenn der Zyklus mit Kerners "Wanderlied" beginnt. Die in die Höhe strebenden, himmelwärts fahrenden Bewegungen der Streicher; die um Auflösung ringenden Hymnen der Bläser; der mächtige, brausende, alle mitreißende Gesamtklang von Chor, Solisten und Orchester, der das Werk fortan prägt: Dies alles kündet von einem höheren Unterwegssein. Vihmands kraftvolle, dicht instrumentierte, vor Farben sprühenden Klänge sind auf Überwältigung aus, auf Epiphanie. Nicht ohne Grund ertönen immer wieder Glocken und sorgen für auratischen Glanz, aber auch jenen Glitzer, mit dem Vihmand ihre Partitur oft überzieht. Mag sein, dass Mari Vihmands Musik oftmals zu wenig Ecken und Kanten hat. Doch immer wieder findet sie zu staunenerregenden Klängen, etwa jenen, die sie in luzider, fast kammermusikalischer Transparenz zu den Schlussversen von Kerners "Glück des Verlassenseins" kongenial erfand - eine Beglückung. Vihmands ganz eigener Zugriff auf die Dichtung paart sich in diesem Werk damit aufs Schönste mit der nonkonformistischen Schreib- und Denkart, die nicht nur Vihmand, sondern seit Jahrzehnten sehr vielen Komponisten aus dem ehemaligen Ostblock eigen ist und postromantische Harmonik als Grund und Boden ihrer Musik nicht scheut. Nicht zuletzt dieser Haltung verdanken wir das Unikum einer Zweitvertonung von Schillers Ode "An die Freude", der sich Vihmand, in der Mitte des Werks, mit ebenso stürmischer wie unvoreingenommener Begeisterung gewidmet hat.
Dass sich der Vergleich mit Ludwig van Beethovens Neunter verbietet, die im Anschluss an Vihmands "Unterwegs" erklang, machten die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, der Münchner Motettenchor sowie die Solisten Melanie Diener, Barbara Hölzl, Mirko Roschkowski und Michael Kraus unter Leitung von George Pehlivanian impulsiv und leidenschaftlich deutlich: Fernab von Beethovens politischer Lesart und immer auch zerbrechlicher Zukunftshoffnung, komponiert Mari Vihmand Schillers schönen Götterfunken als einen Naturhymnus, in dessen leuchtstarkem Schillern die Utopie einer besseren Welt sich fast schon erfüllt.
Uudised
Rafael Rennicke. "Mut zum Götterfunken". – Südwest Presse, 11.10.2010
11.10.2010